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Das Tal blüht im September – Erzählung von Redwan Abushweisha



Oben: Wadi In Erahar, 1969 von den Nomaden verlassen.
Mitte und unten: neue Farm im Wadi Berjuj

Nach der Revolution von 1969 verändert sich das Tal und blüht. Nach Jahrhunderten der Unfruchtbarkeit mit ein paar wenigen wilden Birnbäumen. Meine Mutter trug die ganze Liebe für das alte Tal in sich; das Verschwinden eines wilden Obstbaums machte sie traurig. Als die neuen Farmer kamen und das Gesicht des Tals veränderten, erfüllte es sie mit Angst. Die Scheidung eines Neureichen von seiner in die Jahre gekommenen Frau ist ein Unglück, der Gesprächsstoff für viele Monate.

Mit den landschaftlichen Reformen hat sich das Tal verändert. Das Tal hat seine Haut verändert; die Alten werden älter und wissen stets weniger, was vor sich geht; was ist mit dem Tal geschehen? Alte Männer und alte Frauen schauen stumm den Traktoren zu, die Platz für die neuen Farmen schaffen. Sie wälzen unentwegt alte Erinnerungen an ihr vergangenes Leben.

Meine Mutter weiß nicht, dass das Leben eine Mühle ist, die mahlt und mahlt, ohne jemals stillzustehen. Sie begreift nicht, dass Vergangenheit nicht zwangsläufig ruhm- oder reizvoll sein muss. Sie begreift nicht, dass Schulen, die den Platz der Sandhügel und des Unkrauts einnehmen, den Kindern das Alphabet eines rechtschaffenen Lebens beibringen wird. Meine Mutter begreift nicht, dass aus dem Tal künftig Schulen werden; Wasserdämme und eine grüne Landschaft. Meine Mutter begreift das nicht; sie ist alt geworden und betrachtet die Vergangenheit als etwas Schönes und lebt darin.

* * *

Sie wartete jedes Jahr, dass ich aus München zurückkehrte, wo ich mich für zehn Jahre niedergelassen hatte. Was mich in meine Heimat zurückkehren lässt, ist eine große Liebe; diese große Liebe ist etwas, das mir das Atmen möglich macht; und meine Mutter ist deren Verkörperung.

Das Grab meines Vaters ist die Glocke, die in meinem Herzen und meinen Gedanken erklingt, wenn das Fernsein von meiner Heimat zu lang wird. Dem Besitzer des Restaurants in München, Herrn Geisler, habe ich erzählt, dass meine Mutter mich bat, in mein Land zurückzukehren und am Grab meines Vaters eine Sure aus dem Koran aufzusagen.

Da ging Herr Geisler aus seinem Restaurant und kehrte mit einem Flugticket nach Tripoli zurück und sagte: „Geh zu deiner Mutter und in das Tal und zur Grabstätte deines Vaters und kehre dann zu uns zurück, mein Sohn.“

Ich liebe mein Land und diese Liebe ist die Nabelschnur, die mich am Leben erhält; was aber kann ich meinem Land geben, wenn ich zurückkehre? Ich bin fünfunddreißig und kann nichts anderes, als deutsche Speisen zubereiten. Im Grunde genommen bin ich schwach, mit zarten Gefühlen. Und der Fremdenfriedhof in München wird meine Ruhestätte sein, da ich nur ein grüner Zweig eines sterbenden Baumes bin; dieser sterbende Baum ist meine Mutter.

So werde ich, einem Wintervogel gleich, bald nach Hause fliegen zu meiner Mutter, zum Tal, zum Friedhof meines Vaters. Und am Ende werde ich zurückkehren nach München.

Die Heimat aus der Ferne zu lieben ist etwas Rätselhaftes. Diese Liebe ist von etwas Heiligem umgeben, so wurde ich aus freien Stücken süchtig, bringe meine Abende mit Lautenspiel zu, lese Bücher und suche im Radio nach der Stimme meiner Heimat.

* * *

Meine Mutter wurde krank, und ich kehrte von München aus in das Tal zurück; zwei Tage später starb sie auf dem selben Teppich, den sie Jahrzehnte zuvor gewebt, bevor sie meinen Vater heiratete; auf dem selben Teppich, auf dem mein Vater starb; auf dem selben Teppich, auf dem ich geboren wurde. Die Nachbarn trugen sie zum Friedhof oben auf dem Hügel hinauf. Ich weinte lange; ich las eine Sure aus dem Koran für den vorletzten Zweig meines Familienstammbaums. Ich fühlte mein Rückflugticket nach München in der Tasche und stieg, ganz in mich gekehrt, den Hügel hinab und spürte, wie meine Füße an der Erde hafteten.

Übersetzung aus dem Englischen von Udo Breger

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