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Afrika in 24 Stunden – Unfreiwilliger Aufenthalt in Gossi
Graffito in der Medina Tripolis
Foto Aurel Schmidt, 2006

Von Aurel Schmidt

Die Panne dauerte 24 Stunden, und in diesen 24 Stunden lief so alles ab, was in Afrika abläuft, was «Afrika» ausmacht: Die Mentalität der Menschen und ihr Umgang mit der Zeit und den Gegebenheiten ihres Daseins.
Von seinen zahlreichen Reisen berichtet der Basler Schriftsteller und frühere Redaktor Aurel Schmidt in einer lockeren Folge kürzerer Reisebilder. Zu Beginn aus dem afrikanischen Land Mali, wo ihn eine Autopanne an einem Ort ohne Bedeutung 24 Stunden lang festgehalten hat.

Das Fahrzeug hatte eine Panne, und Jörg Mollet und ich schafften es mit unseren algerischen Begleitern Azzia und Mohammed gerade noch knapp bis in die nächste Ortschaft. Dann war Ende. Das Fahrzeug bewegte sich nicht mehr von der Stelle. Es war später Vormittag.

Der Ort war eine Stadt ohne Bedeutung in Mali mit dem Namen Gossi. Ein paar Lehmhäuser machten sich in einiger Entfernung bemerkbar. An einem Tümpel wuschen Frauen im letzten verbliebenen Wasser die Wäsche.

Zuerst dachten wir, die Reparatur würde zwei, drei Stunden dauern. Aber als das Mechaniker, der sich mehr als wahrer Künstler denn als Handwerker erwies, den Fall untersucht hatte, mussten wir einsehen, dass der Aufenthalt länger dauern würde, und wir setzten uns unter das Schatten spendende Dach der Busstation an der Strasse nach Bamako neben der Reparaturwerkstatt. Wir wurden wie exotische Wesen angesehen. Die Fremden sind immer die anderen.

Mit der Zeit kamen wir mit den Menschen ins Gespräch – oder sie mit uns, wer weiss das schon genau. Einige warteten auf eine Fahrgelegenheit, aber sie mussten sich in Geduld üben. Das war alles, was sie tun konnten. Gewiss war nur, dass irgendwann im Verlauf des Nachmittags ein Bus kommen würde. Warten ist keine Sache in diesem Land. Und das wahre Reisen besteht sowieso aus Warten. Der kleinste Teil ist Fahren.

Es wurde Mittag, ein Uhr, zwei Uhr. Wir verzehrten die letzten Biskuits, die wir für alle Fälle bei uns hatten. Wir teilten sie mit den Leuten, die auf ihre Weiterfahrt warteten.

Es wurde immer heisser. Beim commerçant nebenan gab es lauwarme Limonade.

Vorsichtig begannen die Menschen, sich für uns zu interessieren, weniger die Reisende, die nur eines im Sinn hatten, nämlich so schnell wie möglich weg zu kommen, sondern Menschen aus Gossi, die auf der Busstation einen Teil ihres Tages hier verbrachten, weil hier etwas los war.

«Il ne se passe pas beaucoup.»

«Non, pas beaucoup.»

«C‘est tranquille.»

«Oui, oui, très tranquille. Vous venez d‘où?»

«De Tamanrasset.»

«Et vous allez où?»

«A Bamako.»

Träge zog sich die Zeit dahin. Warum träge? Uns kam es so vor. Die Leute aus Gossi kannten diese Probleme nicht. Für sie war es ein Tag wie jeder andere, der so ablief wie alle anderen.

Die Busstation bestand aus einem Verschlag mit einer Wellblechtür und einem Strohdach. Als eine korpulente Frau eine Schüssel Hirsebrei, le thô, auf den Boden stellte, lud uns der Stationsverwalter, der die Billette verkaufte (ein Papierzettel mit einer Aufschrift, unleserlich, jedenfalls für uns), mit einer Handbewegung ein, uns zu ihm zu setzen. Wir wuschen die Hände in einem Becken Wasser und griffen in den Brei, der mit einer scharfen Sauce gewürzt war. Es war drei Uhr nachmittags geworden, und es gab noch immer keine Aussicht zum Weiterfahren, für uns nicht und für die anderen auch nicht.

Aber irgendwann einmal tauchte dann doch endlich der lange erwartete Bus auf. Leute stiegen aus, andere ein, Waren wurden ab- und aufgeladen, ein Reisender führte Kamelfelle mit sich, für eine Viertelstunde herrschte ein absolut unglaubliches Hin und Her, ein Durcheinander, ein Gemenge, ein Chaos, dann fuhr der Bus weiter, und es kehrte wieder Ruhe ein.

Unterdessen hatten unsere algerischen Freunde in einem Warendepot mit einer Mauer um den dazu gehörenden Hof einen Raum zum Schlafen aufgestöbert. Es wurde Abend und die Temperatur eine Spur angenehmer. Nach Einbruch der Dunkelheit assen wir beim Schein einer Petroleumlampe unter einem Zeltdach vor einem Haus Reis und Huhn, das eine Frau mit einer bunten Haarbedeckung zubereitet hatte, das menu du jour, das es jeden Tag gab, aber für die Menschen am Ort schon beinahe ein Luxus war. Auch Bier gab es zum Trinken, auch lauwarm. Es war ein Festessen. Die Kinder des Orts staunten uns an. Eines von ihnen trug ein T-Shirt mit den Bildern von Bush und Bin Laden…

Wir schliefen auf dem Zementboden vor dem Warendepot unter freiem Himmel. Am nächsten Morgen setzten wir uns in die zerschlissenen Korbsessel vor der Mauer, die das Gebäude umschloss, und schauten den Touareg und den Leuten zu, die mit ihrem Vieh an uns vorbei zogen. Es war Markt. Viehmarkt. Wenn sie die Tiere vorbeitrieben, war die Strasse in Staub gehüllt. Was sage ich: Strasse? Sand, weit und breit, Sand, und nochmals Sand. Asphaltiert ist nur die Verbindungsstrasse von Goa nach Bamako.

Zwischendurch machten wir bei unserem Freund, dem Busbahnhofvorsteher, einen Besuch.

«Ça va?» Nichts Neues. Für sie und uns.

«Ça va, merci. Et toi?»

«Ça va, merci. Vous partez bientôt?»

«Oui, bientôt.» Es kommt darauf an. Auf den Mechaniker. Wieviel Zeit er braucht.

Als das Fahrzeug am frühen Nachmittag endlich repariert war, ich glaube, der Mechaniker hatte das Auto neu erfunden, verabschiedeten wir uns von den Leuten. Es wäre sinnlos, jemand fragen zu wollen, wo Gossi liegt. Es gibt über den Ort nichts zu sagen, ausser dass an der Busstation Menschen ankommen und abfahren, eintreffen und weiterreisen und viel Zeit verbringen zu warten. Warten, das ist das Leben. Oder die Zeit verbringen. Wovon die Menschen ihren Unterhalt bestreiten? Vom Automechaniker wussten wir es, Reparaturen fallen immer wieder an. Einige Menschen handeln mit Vieh. Eine Frau verdient Geld mit dem Essen für die zufällig vorbeikommenden Reisenden.

Die Zeit hatte sich in die Länge gezogen. Der Tag seit unserer Ankunft musste 36, 46 Stunden oder noch mehr gehabt haben. Die Zeit war mit dem Tropfenzähler vorbei gegangen. Nichts hatte sich ereignet und doch in Wirklichkeit unendlich viel. Nur was es war, lässt sich kaum sagen. Was passiert war, war der minutiöse Ablauf der Zeit. Es war Abend, Nacht, Morgen geworden, morgen würde sich alles nach dem gleichen Schema wiederholen, Tag für Tag. Alles, was geschehen war, schien auf geheimnisvolle Weise in das Hauptjournal des Tagesablaufs eingeschrieben worden zu sein. Ich suche immer noch einen angemessenen Ausdruck dafür. Vielleicht: Echtes Leben. Und viel Respekt dafür.

Als wir endlich losfuhren, hatten wir den Eindruck, dass die Zeit entgegen dem ersten Eindruck in Blitzesschnelle vergangen war. Wir hatten den Ablauf eines Tages in Afrika miterlebt und auf diese Weise wie ein Bilderbuch oder wie einen Film das Leben in Afrika oder einen winzigen, aber repräsentativen und in höchstem Mass eindrücklichen Ausschnitt davon kennengelernt.

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